26 Feb 2020

Kunst und künstliche Neurone

Am ZKM oder am Centre Pompidou auszustellen – das ist für einen Künstler etwa so, wie es für einen Wissenschaftler ist, in Nature oder Science zu veröffentlichen. Als Forscher seine Arbeit an einem der renommierten Museen zu zeigen, ist dagegen reichlich ungewöhnlich. Die ESI-Wissenschaftler Hermann Cuntz und Marvin Weigand tun es trotzdem. Am 26. Februar hat die Ausstellung „Neurons – simulated intelligence“ am Centre Pompidou in Paris eröffnet, unter den Kunstwerken ist auch eine Installation der beiden Hirnforscher.


In einem weltberühmten Kunstmuseum auszustellen ist für Künstler etwas ganz besonderes, für Wissenschaftler umso mehr. Hermann Cuntz, wie kam es dazu?

Hermann Cuntz: Das war eine ganze Kette von Ereignissen, die dazu geführt hat, dass wir jetzt zu dieser Ausstellung im Centre Pompidou beitragen. Angefangen hat es eigentlich damit, dass mein PostDoc-Chef Michael Häuser mal eines der Bilder von diesen künstlichen Nervenzellen für den Wettbewerb Wellcome Image Awards eingereicht hat – „schönstes wissenschaftliches Bild des Jahres“ oder so. Wir haben den Preis und das Bild wurde damals in der Wellcome Collection in London ausgestellt. Dieses und auch andere Bilder haben sich im Internet sehr gut verteilt und wahrscheinlich dadurch kamen dann auch immer mal wieder Wissenschaftsjournalisten auf mich zu und eins führte zum anderen: Jemand kannte jemanden, der jemanden kannte und eines Tages meldete sich das ZKM (Zentrum für Kunst und Medientechnologie) in Karlsruhe und ich habe ein Ausstellungsstück für die gemacht. Das war erstmal ein 360 Grad Film in deren PanoramaLabor, und den fanden die dann so toll, dass sie etwas von mir wollten für eine Biennale, die dort 2015 organisiert wurde. Marvin hatte damals gerade seine Doktorarbeit bei mir angefangen und die Idee, das Ganze auch in Virtual Reality umzusetzen – und das hat das Ganze natürlich noch mal extra cool gemacht und ist wohl auch bei einigen Leuten in der Kunstszene hängengeblieben. Der Kurator der Ausstellung am Centre Pompidou kannte unsere Neuronen jedenfalls über die Biennale am ZKM. Und tatsächlich muss man sagen, dass unsere Visualisierung zum Thema der Ausstellung sehr gut passt.

Die Ausstellung am Centre Pompidou heißt “Neurons - simulated intelligence” und soll so etwas wie ein Streifzug durch die Geschichte der künstlichen Intelligenz sein, und zwar aus einer künstlerischen Perspektive. Darunter sind aber auch ziemlich biologische Ausstellungsstücke – ein Gehirn in Formaldehyd zum Beispiel. Was erwartet einen, wenn man sich euer Stück ansieht?

Marvin Weigand: Im Prinzip die kortikalen Neurone, die von Hermanns Modell moduliert worden sind. Wenn der Besucher die VR-Brille aufsetzt, fliegt er quasi zwischen 150 Neuronen durch. Durch Bewegung des Kopfes kann man die Flugrichtung steuern. Gelegentlich feuert ein Neuron ein Aktionspotential – dann blitzt es auf. Das Ganze ist begleitet von einer ziemlich sphärischen Musik, die kapselt den Betrachter noch zusätzlich ab und vervollständigt dieses immersive Erlebnis, das man mit Virtueller Realität gerne erreichen möchte.

Ist es ein komisches Gefühl, als Wissenschaftler zu einer Kunstaustellung beizutragen? Denkt ihr, eure Arbeit hat tatsächlich einen künstlerischen Wert?

Hermann Cuntz: Ich denke, wenn wir es jetzt zum ZKM und zum Centre Pompidou geschafft haben, dann ist das Kunst. Das heißt, die Wissenschaft, die wir machen, gehört zur Kunst. Natürlich gibt es Künstler, die nichts mit Wissenschaft zu tun haben, aber wir sind da offensichtlich an einer Grenze oder eher einem Übergang zwischen Disziplinen. Kunst oder Wissenschaft, das kann man nicht mehr wirklich direkt unterscheiden.

Auch wenn ihr ausstellt und damit irgendwie auch Künstler seid, seid ihr ja eigentlich Wissenschaftler und macht Bilder und Videos als Teil eurer Forschung – welche wissenschaftliche Erkenntnis kann man denn mit euren künstlichen Neuronen gewinnen?

Marvin Weigand: Man kann nicht so direkt sagen: Das ist unsere Wissenschaft, die wir ausstellen. Die Visualisierung – diese künstlichen Neurone, die aussehen wie echte biologische Präparate – ist das Ergebnis von dem, was wir eigentlich erforschen. Uns interessieren die allgemeinen Regeln der Architektur des Nervensystems. Wenn wir glauben, wir haben eine mögliche Regel entdeckt, etwa wie Neurone ihre Dendriten wachsen lassen, dann stecken wir diese Regel in ein Modell, das vorhersagt: Wie würde denn ein Dendrit aussehen, der nach diesen Regeln wächst. Und je realistischer der künstliche Dendrit später aussieht, desto besser haben wir verstanden, welche allgemeine Regel dahinter steckt.

Hermann Cuntz: Die Pyramidenzellen, die wir im Centre Pompidou ausstellen, kommen aus einem Fachartikel, den ich vor ein paar Jahren publiziert habe. Darin habe ich Dendriten nicht nur von Pyramidenzellen, sondern von allen möglichen Neuronen aus vielen verschiedenen Spezies angeschaut. Das Paper heißt “One Rule to Grow Them All” und wir zeigen darin, dass eine Grundregel für das Wachstum von Dendriten ist, die Kabellänge möglichst gering und die Signalübertagung möglichst schnell zu halten. Also wenn man weiß, wo die anderen Zellen sind, von denen dieser Dendrit seine Eingänge holen muss, dann kann man mit unserem Modell ausrechnen, wie der optimale Dendrit aussehen müsste. Und dieselben Regeln kann man über verschiedene Spezies, über verschiedene Zelltypen anwenden. Und das funktioniert in allen Fällen, die wir ausprobiert haben. Und eine der schönen Sachen an diesem Modell ist ja auch, dass es schon ganz von Anfang an den Turing-Test besteht insofern, dass man diese Zellen – die Visualisierung der Zelle – einem Experten geben kann und der kann nicht mehr unterscheiden: Ist das eine echte Zelle oder ist das eine künstliche Zelle. Tatsächlich ist es einmal passiert, dass bei uns am Institut ein Kollege einen Vortrag gehalten hat und in der Einleitung meinte: Natürlich wird es nie möglich sein, in einem Computermodell diese schöne Vielfalt von echten Nervenzellen zu reproduzieren. Und dann hat er mein Bild gezeigt von künstlich erstellten Zellen. Das ist für uns natürlich eine tolle Bestätigung dafür, dass wir etwas richtig gemacht haben. Natürlich reicht das als belastbare Evidenz nicht aus, aber es ist ein Hinweis.

Das heißt, die Visualisierung der Neurone ist ein Test, ob ihr korrekte Annahmen gemacht habt, aber das VR-Element ist nur ein Spaß, den ihr euch für das Kunstwerk überlegt habt; einen praktischen Nutzen hat das nicht?

Hermann Cuntz: Das würde ich so nicht sagen. Marvins Umsetzung in VR macht eben auch möglich, dass in Zukunft Leute, die mit ähnlichen Modellen oder Ansätzen arbeiten wie wir, die Möglichkeit haben, die künstlichen Zellen in drei Dimensionen immersiv zu visualisieren. Und nicht nur einzelne Zellen, sondern im Kontext, also in raumfüllenden Netzwerken. Je mehr Zellen man sich im Kontext angucken will, desto schwieriger ist es, den Überblick zu behalten. Und wenn man die Konstellationen in VR sozusagen auch räumlich erfahren kann, hilft das auf jeden Fall, um ein besseres Verständnis zu gewinnen. Marvin war vor fünf Jahren vielleicht der erste, der Neurone in VR umgesetzt hat, aber inzwischen gibt es auch andere Gruppen, die das machen, einfach weil sie an dieselben Grenzen visueller Wahrnehmung kommen wie wir.

Marvin Weigand: Ich würde die VR-Umsetzung auch gerne publizieren, nicht unbedingt als Paper, aber als Programm für Virtual Reality-Brillen. Frei zum runterladen für jedermann. Ich denke, das könnte einen ziemlich hohen Impact haben, weil es einfach noch sehr neu ist. Und unabhängig davon, ob das jetzt konkret für wissenschaftliches Arbeiten relevant ist, könnten wir so ganz sicher auch Menschen erreichen, die nichts mit Forschung zu tun haben, und das Interesse an Neurowissenschaften im Allgemeinen erhöhen. Gerade jetzt beim Aufbau der Ausstellung im Centre Pompidou kam ein Wachmann auf mich zu und meinte, moderne Kunst würde ihn eigentlich nicht so interessieren, aber unser Stück fände er einfach toll und er wollte mehr darüber wissen.

Was steht bei euch als nächstes auf dem Plan, Kunst oder Forschung?

Hermann Cuntz: Beides. Wir sind derzeit im Gespräch mit einem Israelischen Künstlerpaar für ein neues, interaktives Projekt. Aber natürlich stecken wir die meiste Energie in unsere Forschung. Wissenschaftlich gesehen ist einer der nächsten Schritte, Zelltypen nicht in Isolation, sondern in einem Zellverbund zu untersuchen. Wir sind jetzt in der Lage, die Zellen nicht mehr alleine wachsen zu lassen im leeren Raum, sondern zusammengepackt in einem Stück Kortex zum Beispiel. Und da versuchen wir jetzt, alle Zelltypen, die es gibt, gemeinsam und gleichzeitig wachsen zu lassen. Und am Ende hoffen wir natürlich, dass wir elektronenmikroskopische Aufnahmen, die von echtem Gewebe gemacht worden sind, simulieren können. Dadurch können wir dann sagen: Von unserem Modell erwarten wir, dass es so aussehen sollte – tut es das? Wenn nicht, müssen wir noch etwas ändern. Wenn ja, dann haben wir schon viel erklärt von dem, was es in Wirklichkeit gibt.

Die Ausstellung Neurons – simulated intelligence am Centre Pompidou eröffnet am 26. Februar und läuft noch bis 20. April 2020.