19 Nov 2020

Alles eine Frage der Balance

Gleichgewicht halten ist wichtig. Aber das wissenschaftliche Interesse daran, wie unserem Gehirn das gelingt, hat nachgelassen. ESIs Jean Laurens erklärt im Interview, warum dieses Sinnesorgan wieder mehr Aufmerksamkeit verdient hat – schließlich würden wir seinen Verlust schmerzlich bedauern.


Sucht man auf der Wissenschafts-Datenbank PubMed nach ‘vestibuläres System’, landet man ungefähr 10.000 Treffer. Zehnmal mehr Ergebnisse ergibt die Suche nach ‘visuelles System’. Ist unser Sehsinn also zehnmal interessanter als unser Gleichgewichtssinn?

Jean Laurens: Als jemand, der das vestibuläre System erforscht, würde ich diese Frage natürlich mit Nein beantworten. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass dem visuellen System mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird. Dafür gibt es viele Gründe. Einer davon ist sicherlich, dass wir Menschen unsere Umwelt mit Vorliebe visuell wahrnehmen. Sehen ist etwas, das wir sehr bewusst tun. Aber nur wenigen wird bewusst sein, dass sie ein Gleichgewichtsorgan in ihrem Innenohr haben. Vielleicht wissen sie das zwar, aber sie werden nicht oft daran denken. Denn tatsächlich bemerken wir es meistens erst dann, wenn es nicht so funktioniert wie es soll.

Das heißt also, dass wir den Gleichgewichtssinn nicht weiter erforschen, weil uns seine Bedeutung nicht bewusst ist?

Jean Laurens: Nein. In den 1960er und 70er Jahren, als die ersten bemannten Raketen starteten und der Wettlauf ins All begonnen hatte, war das vestibuläre System ein sehr gefragter Forschungsgegenstand. Es war in gewisser Hinsicht ein Pionierfeld, um zu verstehen, wie das Gehirn Bewegung kontrolliert. Wir kennen daher auch seine Anatomie, Physiologie und neuronale Dynamik. Einige der mathematischen Modelle, die in diesem Bereich entwickelt wurden, sind einfach nur fantastisch – sie können Wahrnehmung oder oder Reaktionen auf neuronaler Ebene unglaublich genau vorhersagen. Doch seit Ende der 1990er Jahre gibt es vergleichsweise wenig Neues, sodass die aktuelle Neurowissenschaft dem vestibulären System als Sinnesorgan immer weniger Beachtung geschenkt hat.

Klingt, als ob wir schon alles wüssten, was relevant ist. Aber woran forschst du, wenn es keine offenen Fragen mehr gibt?

Jean Laurens: Tatsächlich gab es in den vergangenen Jahrzehnten einige grundlegende Innovationen. Allerdings haben ihnen nur wenige Leute Beachtung geschenkt. In der Vergangenheit wurde der Gleichgewichtssinn vor allem im Labor erforscht, indem Probanden auf einem Stuhl saßen, der sich in alle Richtungen drehen lässt. Wir wissen so gut wie alles darüber, wie die Nervenzellen im Gehirn darauf reagieren und auf alle anderen ungewöhnlichen Bewegungen. Aber abgesehen von gelegentlichen Jahrmarktbesuchen ist das für unseren Alltag nicht besonders relevant. Darum begann die Forschung, die vestibulären Nervenzellen unter natürlicheren Bedingungen zu betrachten: Was passiert zum Beispiel, wenn sich Tiere selbst bewegen, anstatt bewegt zu werden? Dabei kam heraus, dass die Nervenzellen nicht reagierten. Aber warum? Weil das Gleichgewichtsorgan ein Feedback-System ist, d.h. wenn wir uns aus eigenen Stücken bewegen, weiß das Gehirn, was es erwartet. Das vestibuläre System überwacht nur, dass alles glatt läuft. Wie wichtig das ist, zeigt sich besonders, wenn wir auf schwierigem Untergrund laufen, wie auf Matsch oder nassen Blättern. Oder wenn wir ausrutschen und eine Ausgleichsbewegung machen müssen, um nicht hinzufallen. Die Forschung hat zwar eine Weile gebraucht, diese neuen Erkenntnisse in ihre Theorien zu integrieren, aber mittlerweile ist das vestibuläre Feedback erforscht und kann mit mathematischen Modellen beschrieben werden. Und darauf liegt auch der Schwerpunkt meiner Arbeit, denn ich glaube, dass dieser Ansatz der Neurowissenschaft neue Wege eröffnen kann.

Also statt an alten Mustern festzuhalten, schaust du dir das Gleichgewichtsorgan unter natürlicheren Bedingungen an, nämlich wenn sich der Körper von alleine bewegt?

Jean Laurens: Genau, ich arbeite quasi an der Schnittstelle zweier Forschungsfelder: Ich untersuche die räumliche Orientierung UND das Gleichgewichtsorgan, denn ich will herausfinden, wie und warum wir in der

Lage sind, uns von einem Ort zum anderen zu bewegen. Nehmen wir mal an, ich will von meinem Büro hinunter in den Garten gehen. Klingt einfach, aber für unser Gehirn ist es sehr kompliziert: Es muss sich in seiner Umgebung orientieren, wofür es die Bewegungen des Körpers in dieser Umgebung aufnehmen muss. Es muss permanent die Körperhaltung anpassen, damit wir nicht fallen, wenn wir die Treppe runtergehen oder vom harten Betonboden auf weiches Gras treten. Der Hirnbereich, der diese schwierige Aufgabe meistert, ist das Gleichgewichtsorgan. Die Kombination dieser beiden Forschungsfelder ist eine gute Mischung, besonders weil sie so unterschiedlich sind: Das eine ist noch recht jung, dynamisch und alle sechs Monate geschieht etwas Neues. Das andere ist älter, die Forschung schreitet dementsprechend langsamer voran und wird gleichzeitig immer anspruchsvoller. Vor allem wird immer mehr Mathematik nötig, um die Experimente zu entwickeln. Aber genau das mag ich daran!

Und zwar so sehr, dass du vor kurzem eine Twitter-Serie ins Leben gerufen hast, in der du die Grundlagen des Gleichgewichtorgans erklärst. Würden wir jetzt über das visuelle System sprechen, ließ sich eine Unmenge an Tweets dazu finden. Wie sieht das für das Gleichgewichtsorgan aus?

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Jean Laurens: Du findest ein paar Sachen dazu, was passiert, wenn du deinen Kopf bewegst oder dir schwindelig wird. Aber das war’s dann auch schon. Und ich glaube, das ist mit ein Grund dafür, warum viele den Wert dieser Forschungsarbeit nicht mehr zu schätzen wissen. Klar, die Community hat sich auch nicht wirklich darum bemüht, ihre Ergebnisse außerhalb ihrer eigenen Reihen publik zu machen. Deshalb versuche ich auf Twitter einen Überblick zu geben über die grundlegenden Prinzipien, wie das Gehirn die Bewegungen seines eigenen Körpers wahrnimmt. Eine der jüngsten Arbeiten, die etwas Vergleichbares tut, ist von 1974. Betrachtet man die aktuellen neurowissenschaftlichen Lehrbücher, kommt das Gleichgewichtsorgan darin nur am Rande vor. Es ist schon traurig, dass ich sagen muss: ‘Hey, Leute, das vestibuläre System ist super! Lest mal den Übersichtsartikel von 1974!’

Warum könnte das Gleichgewichtsorgan für alle Neurowissenschaftler interessant sein?

Jean Laurens: Unser Gleichgewichtssinn beeinflusst auch viele andere Sinnesorgane. Es gibt zum Beispiel eine sehr gut untersuchte Verbindung zwischen visuellem System und Gleichgewichtsorgan, die dafür sorgt, dass wir unseren Blick stabil halten, während wir uns bewegen. Aber Gleichgewichtsforschung könnte auch für diejenigen interessant sein, die sich mit Bewegungskontrolle auseinandersetzen, denn beides befasst sich mit ähnlichen Fragen hinsichtlich Fühlen und Kontrollieren dreidimensionaler Bewegungen von Körperteilen; zum Beispiel: Ich möchte eine Kiste hochheben, von der ich nicht weiß, ob sie voll oder leer, leicht oder schwer ist. Um diese Aufgabe zu bewältigen, müssen verschiedene Gelenke durch Muskelanspannung und -entspannung flexibel zusammenarbeiten. Ähnlich ist das auch beim Gleichgewichtsorgan, wobei dieses noch einfacher dargestellt werden kann, weil weniger Variablen berücksichtigt werden müssen. Und das Beste daran: Wir kennen hier schon die wichtigsten neuronalen Pfade und haben Modelle, die diese beschreiben. Das Gleichgewichtsorgan ist also ein gutes Beispiel, um Bewegungskontrolle in einem größeren Zusammenhang zu verstehen. Aber dass wir ihm so wenig Beachtung schenken, ist meiner Meinung nach ein Verlust für die wissenschaftliche Gemeinschaft. Wir lassen Erkenntnisse brach liegen, die uns dabei helfen könnten, die Forschung voranzutreiben. Ich hoffe, ich kann daran etwas ändern.